Die Kostenwahrheit von Lebensmitteln
Ist True Cost Accounting eine Chance für den Bio-Fachhandel? Im Gespräch mit dem Wissenschaftsteam, bestehend aus Prof. Tobias Gaugler, Prof. Jan Niessen, Dr. Amelie Michalke, Lennart Stein, Benjamin Oebel und Tim Andreae von der Technischen Hochschule Nürnberg und der Universität Greifswald.
Der Preis ist heiß – aufgrund von Inflation, steigenden Energiepreisen etc. greifen immer mehr Kunden verstärkt zu preiswerteren Produkten bzw. Handelsmarken. Dieser Trend lässt sich auch im Naturkostfachhandel beobachten. Ist das sogenannte „True Cost Accounting “1, also die Ermittlung der wahren Preise, die Chance für den Bio-Fachhandel, Kunden zu binden und neue Kunden zu gewinnen?
Das Wissenschaftsteam forscht und lehrt an der Fakultät für Betriebswirtschaft an der Technischen Hochschule Nürnberg. Im Studiengang „Management in der Ökobranche“ werden jungen Menschen Kompetenzen für eine Transformation und Zukunftsfähigkeit des Ernährungssystems vermittelt. Als führende Expert*innen zum Thema True Cost Accounting ist das Wissenschaftsteam u.a. am EU-Projekt FOODCoST beteiligt. Das Projekt läuft bis 2026 und wurde bereits 2023 auf der BIOFACH mit dem Wahre Preise Supermarkt „Echt“ vorgestellt. Auch auf der BIOFACH 2024 wird das Forschungsteam das True Cost Accounting auf mehreren Veranstaltungen beleuchten.
Vor gut einem Jahr ist das EU FOODCoST Projekt gestartet. Können Sie mit uns erste Erkenntnisse teilen?
Ziel des FOODCoST Projektes ist eine Weiterentwicklung und europäische Vereinheitlichung des True Cost Accountings (TCA).
Die Durchführung der Penny „Wahre Preise“-Kampagne führte zu einer enormen Aufmerksamkeit auf das Thema im Jahr 2023. Hierzu werden erste wissenschaftliche Erkenntnisse u.a. auf der BIOFACH 2024 in Nürnberg vorgestellt. Auch spannende Forschungsergebnisse weiterer Case Studies (u.a. Studien im Bereich der Außer-Haus-Verpflegung) zu wahren Preisen werden im Jahr 2024 erwartet.
Aktuelle Marktpreise stimmen nicht mit den wahren Preisen überein. Wie würden sich konkret die Preise verändern – auch im Vergleich ökologisch erzeugt vs. konventionell?
Auf Basis der Methode Life Cycle Assessment (LCA), auch Ökobilanzierung oder Lebenszyklusanalyse genannt, ergeben sich wahre Preise für verschiedene ökologische Einflussfaktoren. Je nachdem, wie umweltschädlich Produktionsketten sind, werden höhere oder niedrigere Externalitäten2 verursacht. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass tierische Lebensmittel aufgrund ihrer längeren Prozessketten weit höhere Kosten verursachen als pflanzliche. Und: Die biologische Produktionsweise ist naturnäher als die konventionelle Landwirtschaft und verursacht deswegen im Durchschnitt weniger Kosten.
In unserer Veröffentlichung Michalke et al. (2023)3, die neben verschiedenen Produkten auch zwischen verschiedenen Produktionstypen unterscheidet, können wir sehen, dass sich der Erzeugerpreis von 1 kg Rindfleisch um 9,60€ bis 11,49€ erhöhen müsste, während 1 kg Milch externe Kosten von 0,72€ bis 0,84€ verursacht. Im Vergleich dazu: 1 kg grüne Bohnen verursachen Kosten von nur 9 bis 34 Cent. Dies wären nur die externen Kosten bis zum Hoftor, d.h. die Kosten, die während Verarbeitung und Transport in nachgelagerten Schritten verursacht werden, würden noch hinzukommen.
True Cost Accounting bedeutet soziale Gerechtigkeit, da die wahren Kosten nur von den Konsumenten getragen würden und nicht von der gesamten Gesellschaft. Auf der anderen Seite bedeutet es aber auch, dass sich ein Großteil der Bevölkerung bestimmte Produkte nicht mehr leisten könnte. Entsteht daraus nicht eine andere Ungerechtigkeit?
True Cost Accounting soll nach Möglichkeit dem „Polluter Pays Principle“ (Verursacherprinzip) entsprechen. Wir haben als Wissenschaftsgruppe zwar bisher über die wahren Preisen direkt im Handel kommuniziert4, da dies für viele am greifbarsten ist. Wir sprechen aber keineswegs die Empfehlung aus, die wahren Kosten auf alle Produkte sofort aufzuschlagen. Es geht zunächst nur darum, das bestehende Problem versteckter Kosten sichtbar zu machen und Bewusstsein für die Problematik in der Gesamtbevölkerung, aber auch insbesondere in der Politik zu schaffen.
True Cost Accounting sollte möglichst früh in der Wertschöpfungskette implementiert werden, sodass die Externalitäten, die im Laufe des Lebenszyklus von Produkten anfallen, tatsächlich reduziert werden. Natürlich hätte das zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise. Langfristig würden sich aber andere Kosten, die die Allgemeinbevölkerung aktuell schon z. B. in Form von steigenden Wasserpreisen spürt, reduzieren und somit die Geldbeutel an anderer Stelle entlasten.
Doch eins ist klar: Eine Implementierung von TCA muss immer mit einer sozialverträglichen Umsetzung für Konsumierende sowie einer wertschätzenden Entlohnung für Erzeugende einhergehen. Das Ziel sollte sein, dass sich alle Menschen eine Ernährung, die sich z. B. an der Planetary Health Diet orientiert – und damit sowohl für den Menschen als auch den Planeten gesund ist – leisten können und dass Erzeugende fair für ihre Leistungen entlohnt werden. Zu diesem Ziel gelangt man selbstverständlich nur über damit einhergehende politische und rechtliche Rahmenbedingungen5.
Ist das True Cost Accounting die Chance für den Bio-Fachhandel, Kunden zurückzugewinnen und neue Kunden zu gewinnen?
Wenn dies in eine umfassendere Kampagne oder vielmehr einen positiven Ansatz gerahmt wird, können wir uns das gut vorstellen. Wenn der Bio-Fachhandel die Leistungen der Bio-Akteur*innen seiner Wertschöpfungsketten als Mehrwerte darstellt – beispielsweise nach dem Motto „Vielfältige Mehrwerte für Dich, das Klima, die Bienen und unsere Bauern bei uns inklusive“, könnte das klappen. Aktuell gibt es Ansätze für Kommunikation und Kampagnen bei der AöL und dem BNN, wo dies genutzt werden kann. Idealerweise werden solche Ansätze mit einer Weiterentwicklung des Fachhandels verknüpft, die Spaß macht und sexy ist.
Welche Chancen sehen Sie, dass sich das True Cost Accounting durchsetzt? Welche gesetzlichen und politischen Rahmen-bedingungen müssen dafür geschaffen werden?
In erster Linie gilt es, True Cost Accounting als ein Instrument zu betrachten, das für Transparenz sorgt, die in aktuellen Wertschöpfungsketten von Lebensmitteln kaum vorhanden ist. Auf der Ebene des Konsums betrachten wir TCA folglich eher als ein Informations- und Transparenzinstrument. Hier kann Kund*innen mit der Hilfe von zweiten Preisschildern oder anderen Zusatzinformationen aufgezeigt werden, welche Umweltfolgekosten durch Produkte entstehen. So werden die Unterschiede zwischen verschiedenen Produktgruppen (tierisch und pflanzlich) sowie den Herstellungsprozessen (konventionell und bio) klar ersichtlich und es können mündige Einkaufsentscheidungen getätigt werden.
Die große Hebelwirkung wird seitens der Forschung insbesondere in der verpflichtenden Berichterstattung von Unternehmen sowie der Nutzung von TCA-Erkenntnissen als Grundlage für gesetzliche und politische Entscheidungen und damit einhergehende veränderte Rahmenbedingungen gesehen. Darauf basierend können positive und negative Anreize in der gesamten Wertschöpfungskette gesetzt werden, die zu einer Reduktion von Externalitäten beitragen. Konkret kann die Transparenz von Externalitäten mit TCA auf der Unternehmensebene durch die CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) umgesetzt und verpflichtend werden.
Ebenso können auf nationaler und insbesondere auf europäischer Ebene Rahmenbedingungen geschaffen werden, z. B. auf Ebene der Fiskalpolitik durch veränderte Mehrwertsteuer. Unser Vorschlag: 0 % MwSt auf pflanzliche Bioprodukte und 19 % auf konventionelles Fleisch. Auch mittels einer Restrukturierung von Agrarsubventionen, mit Verboten bzw. der Besteuerung von Stoffen mit besonders hohen Externalitäten (z. B. Inhaltsstoffe von Düngemitteln oder Pestiziden) können Anreize für eine nachhaltige Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme gesetzt werden.
Dafür notwendig ist jedoch eine harmonisierte und europaweit anerkannte Methodik von True Cost Accounting, welche als allgemeingültige Entscheidungsgrundlage fungiert. Daran arbeiten wir im EU-Forschungsprojekt FOODCoST gemeinsam mit Kolleg*innen der Universitäten Oxford, Bonn und Wageningen.
True Cost Accounting macht darüber hinaus soziale Ungerechtigkeiten in der Produktion von Lebensmitteln sichtbar, wie die Unterbezahlung von Arbeitnehmern. Welchen Zusammenhang bzw. Chancen sehen Sie hier mit dem deutschen Lieferkettengesetz und dem aktuell diskutierten Entwurf der EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD)6?
Das Konzept des True Cost Accountings spielt hier eine ganz klare und entscheidende Rolle in der Unterstützung von Unternehmen, diesen Gesetzen nachzukommen. Die zugrundeliegende Methode der Lebenszyklusanalyse umfasst die Betrachtung der ökologischen Daten aller Prozessschritte entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Diese ökologische Betrachtung wird derzeit um soziale Faktoren, wie faire Entlohnung oder Zwangsarbeit, erweitert. Mit dem quantitativen Ansatz der TCA können so Hotspots entlang der gesamten Lieferkette aufgedeckt werden – es wird Transparenz geschaffen.
Auf der BIOFACH 2023 durfte der Wahre Preise Supermarkt „Echt”, der von Prof. Jan Niessen und mir seitens der Technischen Hochschule Nürnberg zur Wissenschaftskommunikation ins Leben gerufen wurde, Premiere feiern. Die Resonanz war überaus positiv! Wir konnten nicht nur vor Ort mit den Besucher*innen in interessante Gespräche und weiterführende Diskussionen einsteigen, sondern es wurde auch Interesse für weitere Veranstaltungen bekundet, die dann in einer großen Roadshow des Supermarkts mündete.
Es hat sich gezeigt, dass die anschaulichen Darstellungen der Lebensmittelattrappen in der Supermarktumgebung das Interesse der Menschen im Vorbeigehen wecken. Die Preisschilder, welche die ökologischen Folgekosten transparent machen (z. B. bei Äpfeln, Bananen, Milch oder Hackfleisch), regen zum Nachdenken an.
Zudem konnten Interessierte selbst einen Teil zur Forschung beitragen, indem sie in der Forschungsecke an einer Eye-Tracking Studie zur Wahrnehmung von zweiten Preisschildern für wahre Kosten teilnahmen. Interessant war zu beobachten, dass sowohl Expert*innen als auch Laien von dieser Form der Wissenschaftskommunikation angesprochen wurden.
Quellen:
[1] True Cost Accounting ist eine Form der Kostenrechnung unter Berücksichtigung der verursachten gesamtgesellschaftlichen Kosten. Die wahren Kosten umfassen die Auswirkungen der gesamten Produktionskette von Lebensmitteln auf die Gesellschaft sowie die Umwelt. Dazu gehören zum Beispiel der Verbrauch von Umweltressourcen, Verlust der Artenvielfalt durch Intensivierung der Landwirtschaft oder ernährungsbedingte Gesundheitskosten. BZfE. (o. D.). True Cost: Wahre Kosten – wahrer Nutzen. https://www.bzfe.de/nachhaltiger-konsum/grundlagen/true-cost-wahre-kosten/
[2] Externalitäten bezeichnen Kosten oder Nutzen, die sich nicht auf den Verursacher, sondern auf unbeteiligte Personen auswirken. Diese externen Effekte entstehen beim Konsum oder der Produktion eines Gutes und sind nicht im Marktpreis enthalten
[3] Michalke, A., Köhler, S., Messmann, L., Thorenz, A., Tuma, A., & Gaugler, T. (2023). True cost accounting of organic and conventional food production. Journal of Cleaner Production, 408, 137134. https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2023.137134
[4] z. B. mit dem Wahre Preise Supermarkt „Echt” auf der BIOFACH 2023 oder bei der „Wahre Kosten“-Kampagne im August 2023 mit PENNY
[5] Weitere Informationen in Michalke, A., Stein, L., Fichtner, R., Gaugler, T., & Stoll-Kleemann, S. (2022). True cost accounting in agri-food networks: A German case study on informational campaigning and responsible implementation. Sustainability Science, 17(6), 2269-2285. https://doi.org/10.1007/s11625-022-01105-2
[6] Die sogenannte EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive CSDDD) wird aktuell im sogenannten Trilog zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und EU-Rat diskutiert. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Unternehmen bei Verstößen gegen Umwelt- und Menschenrechtsstandards entlang der gesamten Lieferkette haftbar gemacht werden können. Firmen müssen sicherstellen, dass es in ihrer Lieferkette nicht zu Kinderarbeit, Sklaverei, Ausbeutung von Arbeitskräften, Umweltverschmutzung, Umweltzerstörung und Verlust der biologischen Vielfalt kommt.