Regionalität und ihre Gesichter – von „Brutal Lokal“ bis „Local Exotics“
29.11.2023 Zukunft Außer-Haus-Verpflegung

Regionalität und ihre Gesichter – von „Brutal Lokal“ bis „Local Exotics“

Regionale Wertschöpfungsketten sowie das Ersetzen von Inhaltsstoffen durch heimische Zutaten bieten Chancen für mehr Resilienz und Nachhaltigkeit im Ernährungssystem und sind wichtiger Teil der Ernährungswende. Trends wie „Brutal Lokal“ und „Local Exotics“ zeigen wie es geht.

Bio-Gemüse in Holzkiste auf Holztisch

Die Auswirkungen der globalen Krisen rücken das Thema Regionalität in den Vordergrund und zwingen die Lebensmittelwirtschaft zur Neuorientierung. Aber Regionalität ist kein neues Phänomen. Ihr geht eine lange Tradition bis in die 80er Jahre voraus. Seitdem hat sie sich in Begrifflichkeit und Charakteristik weiterentwickelt. Die neue Interpretation reicht von „Brutal Lokal“, eine Erfindung der Avantgarde-Gastronomie bis hin zu „Local Exotics“, was die heimische Produktion nicht-endemischer Pflanzen und Tiere beschreibt.

 

„Local Food” und „New Local” starten die Bewegung

Prosciutto di Parma, Thüringer Rostbratwurst – In den 90er Jahren bekommen durch die Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) viele Produkte einen lebensmittelrechtlich geschützten Namen. Gleichzeitig entwickelt sich als Antwort auf die zunehmende Globalisierung der Wunsch der Verbraucher nach regional erzeugten Lebensmitteln, womit der „Local Food“-Trend geboren war.

Doch der neue Trend verliert schon bald an Besonderheit, weil er für Marketingzwecke mehr und mehr massentauglich geformt wird und damit verwässert. Die Folge ist eine Rückbesinnung auf den Kern: Mit dem Begriff „New Local“ rücken Erzeugermärkte, Food Coops sowie Urban Farming in den Mittelpunkt.

 

„Brutal Lokal“ macht erfinderisch

In Skandinavien beginnen die beiden Köche René Redzepi und Claus Meyer sich mit ihrem kulinarischen Erbe zu beschäftigen und rufen eine neue nordische Küche ins Leben, die aus frischen, regionalen, saisonalen und nachhaltig produzierten Lebensmitteln besteht. Sie kreieren Gerichte nur aus Zutaten, die von Klima, Wasser und Boden der jeweiligen Region stammen. Die Avantgarde-Gastronomie greift dies auf, womit der Trend auch in anderen Teilen Europas Fahrt aufnimmt und das Schlagwort „Brutal Lokal“ erhält. Eine Wortkreation nach dem Journalisten Vijay Sapre für das außergewöhnliche Konzept des Berliner Gastronoms Billy Wagner. In seinem Speiselokal „Nobelhart & Schmutzig“ verarbeitet Wagner ausschließlich Lebensmittel aus dem Umland. „Wir verwenden zum Beispiel kein Olivenöl, keinen Pfeffer und keine Zitrone. Damit entscheiden nicht mehr Menükonzepte, was auf den Teller kommt, sondern in erster Linie wird das gekocht, was die Natur gerade eben zu bieten hat“, so Wagner. Im Fokus des „Lokal Brutal“-Trends stehen die radikale Saisonalität und Wild Food, also Schätze der wilden Natur.

 

„Local Exotics“ bringen das Exotische nach Hause

In der jüngeren Vergangenheit haben die Folgen des Klimawandels und Krisen wie die Pandemie, der Ukraine-Krieg und die damit verbundenen Lieferengpässe die Regionalität auf eine neue Ebene katapultiert. Produkte „von hier“ bekommen einen noch höheren Stellenwert und haben den jüngsten Food-Trend hervorgebracht: Den lokalen Anbau von exotischen Pflanzen, sogenannten „Local Exotics“, wie Quinoa, Süßkartoffel oder Artischocken. Das Bio-Unternehmen Bananeira greift den Trend auf und bringt die ersten bayerischen Kichererbsen im Glas auf den Markt.

Neben dem Anbau neuer Rohstoffe werden auch zunehmend exotische Inhaltsstoffe durch regionale Zutaten ersetzt, wie es das tschechische Unternehmen Kojibakers mit seiner neuen Rezeptur für Bio-Tamari zeigt. Die Sojasauce wird anstatt aus Soja aus heimischen Erbsen oder Buchweizen hergestellt.

Lebensmittelwirtschaft und Landwirtschaft reagieren damit auf den gestiegenen Wunsch der Verbraucherinnen und Verbraucher nach kulinarischen Highlights aus lokalem Anbau und heimischer Produktion.

 

Regionale Lösungen für die Transformation des Ernährungssystems

Die vielen Gesichter der Regionalität zeigen, wie viel Potenzial in der regionalen Wertschöpfung steckt und machen auf die teilweise verwässerten Regionalitätskonzepte und das damit einhergehende „Regional-Washing“ aufmerksam. Für die Bio-Branche ist die Zuspitzung des Regionalitätsbegriffs eine Chance, sich wieder zurückzubesinnen auf den Ursprungsgedanken von Bio: biologisch erzeugte Lebensmittel aus der Region. Denn in Kombination sind Bio und Regional bei der Ökobilanz nicht zu übertreffen und damit ein essenzieller Bestandteil für die erfolgreiche Transformation des Ernährungssystems.

Quellenangaben: zukunftsinsitut.de / Food Report 2024 nach Hanni Rützler

Billy Wagner

3 Fragen an … Berliner Gastronomie-Rebell

Billy Wagner
Der brutal lokale Koch über die Bedeutung von Regionalität für Gastronomie und Landwirtschaft

 

1. Herr Wagner, Sie haben für Ihr Gastronomiekonzept den unkonventionellen Begriff „Brutal Lokal“ geprägt. Was genau ist damit gemeint?
 
 Wir kaufen lokal ein und verarbeiten keinen Pfeffer und Zitrone in unseren Gerichten. Wir kennen die Menschen, die hinter den Lebensmitteln stehen und wollen damit den Geschmack der Region prägen. Micha Schäfer (Kreative Leitung Küche im Restaurant Nobelhart & Schmutzig) und sein Team wissen genau, wo die Lebensmittel herkommen. Sie tauchen in die Landwirtschaft ein – aus dieser Nähe entsteht ein Austausch und damit die Gerichte.

 

2. Woher kommt Ihr Interesse für die konsequent regionale Ernährung?
 
 Wenn Lebensmittel in der Saison gekauft werden und nicht so weit gereist sind, sind sie häufig besser, als wenn ich z. B. eine Banane um den Erdball schicke. Gleichzeitig kann man mit dem Menschen hinter dem Produkt auch über die unterschiedlichen Phasen des Produktes sprechen – vom Saatgut, über das Blattwerk bis hin zur Lagerung etc. Bei der Banane geht das nur sehr begrenzt.

 

3. An welchen Stellschrauben muss Ihrer Meinung nach gedreht werden, dass das Lebensmittelsystem grundsätzlich nachhaltiger wird und regionale Lebensmittel und Bio-Produkte einen höheren Stellenwert bekommen?
 
Regionalität ist wichtig, weil wir so mit dem Menschen, der die Landwirtschaft betreibt, in Verbindung kommen. Dabei ist Bio selbstverständlich. Wir benötigen mehr Vielfalt durch kleinteilige Landwirtschaft. Die kleinteilige Landwirtschaft bringt Diversität. Dadurch steigt der Anspruch an Lebensmittel und für uns ganz wichtig: das Gesicht einer Region wird geprägt.

Autor

Anna Frede

Anna Frede

Junior PR-Beraterin | modem conclusa gmbh